|
Der 20. Juni 2002
Am 20. Juni 2002 stand ich gerädert und mit einem unguten Gefühl am Morgen auf. Viel Zeit zum Nachdenken blieb aber nicht. Bayu musste zur Schule, ich musste zur Arbeit. Kurz nach acht rief ich dann meinen Sohn in seinem Büro an. Ein Fremder meldete sich, nein, mein Sohn sei nicht zur Arbeit erschienen, er sei für den Rest der Woche krank gemeldet. Na gut, dachte ich mir, dann versuch ich’s später auf seinem Handy. Wenn’s ihm nicht so gut geht, schläft er sicher lang. Ab 10 hab’ ich’s dann auf seinem Handy probiert. Erst alle halbe Stunde, dann in immer kürzeren Abständen. Er meldete sich nicht.
Aber na ja, hatte er nicht gesagt er wolle für ein paar Tage mal raus aus allem? Hatte Geoffrey nicht gestern angedeutet Roby wolle sich möglicherweise mit seiner Freundin aussöhnen? Also Patricias Handy angerufen. „Ihr Korrespondent ist im Moment nicht zu erreichen". Na alles klar, so wird’s sein: die beiden haben sich irgendwohin zurückgezogen um in Ruhe ihre Probleme auszudiskutieren.
Um ½ 12 sagt mir dann ein Kollege beiläufig: „Patricia war gerade hier um sich aus der gemeinsamen Wohnung mit Roby ab- und bei ihrer Mutter wieder anzumelden." Ich geriet in Panik. Mein mühsam erbautes Kartenhaus aus Selbstbeschwichtigungen und Heile-Welt-Vorgegaukel stürzte in sich zusammen. Wo war Patricia? Ich rannte hinaus. Irgendwo musste sie doch sein. Ich musste jetzt wissen was mit meinem Sohn los war. Ich rannte die Straße in die eine Richtung hinab, dann wieder in die andere. Ich fand sie nicht, aber immerhin hatte die Rennerei dazu beigetragen, dass ich mich etwas beruhigte.
Also jetzt mal langsam, sagte ich zu mir selbst, du gehörst doch nicht zu den Müttern, die immer und überall etwas vermuten, die nicht schlafen können, bevor die Kinder im Haus sind oder denen beim Klang jedes Martinshorns gleich das Herz stehen beleibt. Jetzt komm mal wieder runter und benehme dich nicht wie eine hysterische Kuh. Patricia und Roby haben sich schon 100 Mal getrennt. Roby hat erzählt, er möchte ein paar Tage wegfahr’n und das hat er jetzt eben getan. Er ist halt manchmal etwas impulsiv und unberechenbar und hat eben nicht Bescheid gesagt. Was soll’s, wäre er anders wäre er nicht mein Roby. Vielleicht ist er ja sogar zu seiner Großmutter oder zu seinem Onkel nach Frankreich gefahren.
Ich hab dort angerufen und einfach nur Kommunikation gemacht. Es reichte ja wenn ich mir Sorgen machte, ich musste nicht noch andere beunruhigen. Ihre Frage: „Und wie geht’s Roby?" machte ja deutlich genug klar, dass er dort nicht war. An den Rest des Gesprächs kann ich mich nicht erinnern, ich wollte nur noch auflegen und meinen Sohn suchen. Mein Chef kam herein und diktierte mir einen Brief, auch das habe ich noch gemacht. Ich hatte meine Schrift kaum noch unter Kontrolle, aber ich bin nicht rausgerannt und habe geschrieen: „Ich hab’ jetzt Wichtigeres vor!" Nein, ich bin ja nicht hysterisch! Ich bin cool. Ich habe ja alle meine unnützen Gedanken und sinnlosen Hirngespinste unter Kontrolle.
Genauso cool und besonnen bin ich dann auch in das Restaurant gegangen in dem ich mit meinem Lebensgefährten und meinem jüngsten Sohn verabredet war. Ich habe ein paar Bissen in mich hineingewürgt und ganz beiläufig erwähnt, dass ich nach dem Essen mal nach Roby sehen möchte, könnte sein, dass da was nicht stimmt. Mein Lebensgefährte war jedoch sofort alarmiert. Man muss mir doch angesehen haben, dass ich mir große Sorgen machte. Aber genau wie ich, schob er die schlimmsten Gedanken von sich. Was nicht sein durfte, konnte auch nicht sein. „Geh du jetzt mal zurück zur Arbeit", meinte er, „ich suche ihn. Ich fahr zu Patricias Mutter. Wenn Patricia nicht da ist mit dem Schlüssel, besorg ich ihn mir beim Hauseigentümer. Mach dir mal keine Gedanken, ich komm erst wieder wenn ich weiß wo er steckt."
So war es dann. Ich saß noch nicht lange in meinem Büro, als Jos herein kam und sagte: „Es ist zu spät."
WAS???!!! WAS IST ZU SPAET???!!!!!
Ich wollte das nicht hören. Ich wollte das nicht verstehen.
„Er wollte nicht mehr. Er ist tot, Mausi"
Ich weiß nicht mehr was ich dann tat. Irgendwie saß ich nicht mehr auf meinem Stuhl sondern auf der Erde. Dort konnte man mich nicht sehen, und ich konnte den Rest der Welt nicht sehen. Ich wollte diese Realität nicht. Ich wollte diese Welt nicht mehr. Wenn ich jetzt einfach so sitzen blieb und nichts mehr tat, würde die Welt einfach stehen bleiben. Nichts bräuchte mehr weiter zu gehen.
Dann saß ich wieder auf meinem Stuhl und griff nach meiner Arbeit. Ich könnte doch jetzt einfach weiter arbeiten. Den Rest einfach ausschließen, aus meinem Leben, aus meinen Gedanken. Ich arbeite, gehe nach Hause, gehe wieder zur Arbeit. Wie immer. Dann ist alles wieder wie immer.
Irgendjemand sagte: „Sie kann ruhig hier bleiben, ich bringe alles in Ordnung." Und jemand antwortete: "Nein, du musst sie mitnehmen. Sie kann nicht einfach so da sitzen bleiben."
Ich hab’ dann kapiert, dass ich nicht so tun konnte las sei nichts passiert, dass andere es wussten, dass es ihnen Angst machte, dass ich wenigstens sie, die eigentlich Unbeteiligten, Unschuldigen, aus dieser Situation befreien musste. Als ich ging, haben meine Arbeitskollegen mich geküsst. Ich hatte sie so lieb in diesem Moment, noch viel lieber als sonst. Ich werde immer alles für sie tun, denn sie haben in diesem Moment alles für mich getan. Alles was sie tun konnten, eigentlich nichts und doch alles.
Wir sind dann zu Robys Wohnung gefahren. Er war erst etwa 4 Monate vorher zu Hause ausgezogen. Der Krankenwagen stand einige Meter vom Haus entfernt. Leer. Sinnlos.
Patricia stand da, schluchzend mit ihrer Mutter. Ihre Mutter kam auf mich zu. Sie sagte irgendwas. Wahrscheinlich wollte sie ihre Tochter vor mir schützen. In Patricias Augen stand das blanke Entsetzen. Auch sie versuchte irgendwie zu reden, keine Ahnung was. Ich wollte sie einfach nur in den Arm nehmen. Sie, Robys Patricia, die 5 Jahre lang bei uns ein und aus gegangen ist. Was kann sie dafür, dass er sich umgebracht hat, weil sie ihn verließ? Ich habe auch Männer verlassen, auf mehr oder weniger schöne oder elegante Weise. Sie leben trotzdem noch. Nein, sie kann nichts dafür. Ich glaube das hab’ ich ihr auch gesagt. Ich weiß nicht mehr.
Ich wollte hinein, durfte es aber nicht, die Polizei war noch zugange. Also habe ich mich auf die Treppe gesetzt. Es war ein sehr heißer Tag dieser 20. Juni 2002. Oder sind auch ein paar Tropfen gefallen? Ich weiß nicht mehr. Ich glaube ich saß ein Leben lang auf dieser Treppe. Ich habe nicht geweint, ich habe nichts getan, nichts geredet, nichts gedacht. Ich saß nur da. Irgendwann kam mit quietschenden Bremsen ein Auto angerast. Geoffrey, mein 2. Sohn, damals 20 Jahre alt. Ich glaube ich habe mit ihm geredet oder ihn in den Arm genommen. Ich weiß es nicht mehr. Er war mir so fremd plötzlich, so groß, so erwachsen, und ich war so klein, so gar nichts. „Sie brauchen einen Sarg" hörte ich meinen Lebensgefährten sagen. „Wir müssen einen aussuchen, jetzt gleich. Sie müssen ihn aus der Wohnung holen und in ein Leichenhaus bringen. Dazu brauchen sie einen Sarg. Du musst nicht mitkommen, ich besorge ihn zusammen mit Geoffrey, aber du musst mir sagen wie du ihn willst."
Oh Gott! Sie würden nicht einfach alle gehen und mich mit meinem Jungen in Ruhe leben lassen. Sie würden ihn in eine Kiste packen und mitnehmen!!!!!!!!!!
Ich habe Geoffrey gebeten einen Sarg auszusuchen, der seiner Meinung nach seinem Bruder gefallen hätte. Und ich habe mich zurückgesetzt auf die Treppe. Mir wurde auf einmal klar, dass es eine Beerdigung geben würde, dass noch andere benachrichtigt werden müssten, die Großelter vor allem, Onkel und Tanten. Aber vor allem die Großeltern. Das erste Enkelkind, der Liebling.
Nein, dachte ich, das kann ich nicht. Ich kann ihnen nicht diesen Schmerz zufügen. Das können sie unmöglich aushalten, das kann niemand aushalten. Dann habe ich ernsthaft darüber nachgedacht wie man jedem das ersparen könnte. Ich saß in aller Öffentlichkeit auf einer Treppe, umgeben von Menschen, gesehen von Nachbarn und Passanten, und überlegte wie ich das geheim halten könnte. Ich könnte erzählen er sei nach Amerika ausgewandert ohne jemandem was zu sagen. Oder nach Indonesien. Er käme irgendwann sicher zurück, aber er habe sich gemeldet, es ginge ihm gut. Dann könnten wir alle weiterleben wie immer. Niemand außer mir müsse leiden. Sie wären wütend, weil er einfach so verschwunden ist, und ich würde ihn verteidigen. Er und ich, wir wären eine Einheit gegen den Rest der Welt, nur wir beide würden die Wahrheit wissen. Es war mein Schmerz, meiner ganz allein. Ich wollte ihn niemandem sonst zufügen, und ich wollte ihn auch nicht teilen. Die Polizei war weg, und ich habe ganz leise gefragt ob ich ihn jetzt sehen dürfe. Man sagte mir, ich könne ihn später sehen, im Leichenschauhaus. Ich habe mich einfach zurückgesetzt auf die Treppe. Irgendwie hatte ich das Gefühl als würde ich schrumpfen während die Welt um mich herum immer größer und auch irgendwie immer dichter wurde. Sie schien auf mich zu drücken, mich zu zerquetschen. Irgendwann kam jemand und sagte: „Sie sind die Mutter? Sie dürfen ihn jetzt doch sehen." Aber da wollte ich nicht mehr. Ich wusste, dass das da drin nicht mehr mein Junge war. Mein lieber Junge war fort. Für immer. Ich bin nur noch einmal aufgestanden um neben das Haus zu gehen, bevor sie den Sarg rausbrachten. Ich wollte das nicht sehen. „Das Haus verlassen mit den Füßen zuerst". Irgendjemand hatte diesen Ausdruck irgendwann mal benutzt um auf mehr oder weniger skurrile Art das Sterben zu umschreiben. Nein, das wollte ich mir nicht ansehen. Ich wollte nichts sehen, was mir bewies, dass er tot war.
Ich wollte das alles nicht. Ich wollte meinen Sohn zurück.
Ich wollte nur meinen Sohn zurück. |
![]() ![]() |